Das Online-Warenhaus Amazon steht sinnbildlich für die schöne neue digitale Welt: Mit nur wenigen Klicks eröffnet sich ein tief gestaffeltes Sortiment, auf das jedermann mit Netzanschluss bequem zugreifen kann. Geliefert werden vom Buch bis zur Wäschespinne nahezu alle Produkte des täglichen Bedarfs – neuerdings sogar Lebensmittel – schnell und frei Haus. Die Verbraucher honorieren das. Das Unternehmen hat sich seit seiner Gründung im Jahr 1994 zum unangefochtenen Marktführer im Internet-Versandhandel entwickelt und galt bislang als seriös und kundenorientiert. Der Jahresumsatz belief sich 2012 auf 61 Milliarden US-Dollar. Viele Nachahmer haben dieses Geschäftsmodell kopiert, ohne aber auch nur annähernd eine vergleichbare Reichweite und Popularität zu erreichen. Doch zuletzt geriet Amazon, zumindest in Deutschland, unter Beschuss. Zuerst offenbarte eine ARD-Dokumentation die miserablen Arbeitsbedingungen in einigen Logistikzentren des Handelsriesen. Demzufolge werden zur Hochsaison um Weihnachten tausende Leiharbeiter aus ganz Europa beschäftigt, in Massenunterkünften einquartiert und unter die Aufsicht einer Sicherheitsfirma mit mutmaßlich rechtsradikalem Personal gestellt. Doch damit nicht genug. Jetzt nimmt auch noch das Bundeskartellamt Amazons Geschäftspraktiken unter die Lupe.
Der Verdacht: Amazon behindere den Wettbewerb im Internet. Das Unternehmen bietet auf seiner Website nicht nur selbst Waren an, es erlaubt auch Dritten, über den „Marketplace“ zu verkaufen. Voraussetzung ist, sich einer Preisparitätsklausel zu unterwerfen, die untersagt, die Artikel an anderer Stelle im Internet günstiger anzubieten. Dies könnte jedoch, so Kartellamts-Präsident Andreas Mundt, „gegen das allgemeine Kartellverbot verstoßen.“ Bestätigt sich der Verdacht, kann Amazon dazu verpflichtet werden, die Klausel zu streichen, was das Geschäftsmodell des Unternehmens empfindlich beeinträchtigen könnte.
Schwerer aber als die rechtlichen Konsequenzen wiegt der erlittene Imageschaden. Zwei kleine deutsche Buchverlage haben ihre Verträge mit Amazon bereits gekündigt. Ihre Kritik: Amazon nutze seine Marktmacht rigoros aus und halte seine Lieferanten mit „katastrophal schlechten Konditionen“ kurz. Geschäftspartner wie die Drogeriekette „dm“ und der Textilhersteller Trigema überdenken ihre Zusammenarbeit mit dem Online-Versandhaus ebenfalls. Auch auf der Kundenseite regt sich Widerstand.
Bei alledem bleibt das Unternehmen stumm. Die einzige Reaktion bestand darin, die Beauftragung der besagten Sicherheitsfirma zu beenden. Doch zu den Vorwürfen der Wettbewerbsbehinderung: Kein Wort. Zu einem Statement oder einem Interview scheint kein Verantwortlicher bereit. Nach kompetenten Ansprechpartnern für Lieferanten, wie es sie in normalen Firmen gibt, sucht man ohnehin vergeblich. Die Service-Hotline speist Kontaktanfragen stereotyp mit anonymen Massen-E-Mail-Adressen ab.
Vielleicht ist es auch dieses Gebaren, das Kunden und Kooperationspartner stört: Der Anbieter fing einst als Online-Buchhandlung an und entwickelte sich nach und nach zum Internetkaufhaus mit umfassendem Programm, doch Firmengründer Jeff Bezos kommt nicht aus der Welt der Verleger, sondern aus der Welt der Hedgefonds-Manager. Dementsprechend wird Amazon auch nicht wie ein großer Mittelständler, sondern wie ein multinationaler Konzern geführt. Die Leidenschaft für das Produkt fehlt. Die Werte, die in inhabergeführten Unternehmen gelebt werden, etwa verantwortungsbewusstes Handeln, Fachkompetenz, Fairness und Verlässlichkeit, sind unterentwickelt. Ob die aktuellen Geschehnisse Auswirkungen auf Amazons Marktstellung haben werden, bleibt abzuwarten. Der Stern ist jedenfalls zuletzt gesunken.
Dirk Lichte M.A.