Als der britische Historiker Paul Kennedy 1987 sein epochales Werk über den „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ seit dem 16. Jahrhundert publizierte, war ein relativer Bedeutungsverlust der USA im 21. Jahrhundert für ihn nicht ausgemacht. Sollte er jedoch eintreten, wäre dies in seiner Deutung auch kein revolutionärer Akt, nicht einmal ein unerwartetes Ereignis.
Kennedy vertrat die unter Wissenschaftlern altbekannte These, dass es einen wiederkehrenden Rhythmus des Aufkommens und des Niedergangs dominanter Mächte gebe. Für dieses Modell soll es Gemeinsamkeiten in den Gründen geben. Grob zusammengefasst, ist von „imperialer Überdehnung“ in der Spätzeit die Rede. Am Anfang steigern sie ihre ökonomische, politische und gesellschaftliche Dynamik, erweitern ihr Einflussgebiet (früher durch Okkupation und Annektion, heute ohne), vermehren ihre Bevölkerung und strahlen kulturelle Anziehungskraft aus. Später orientieren sich andere Staatswesen an ihnen, gehen Bündnisse mit ihnen ein, übernehmen ihre Systeme und ihre kulturellen Komponenten. In dieser Zeit steht die Großmacht im Glanz ihrer Hochperiode. Hierauf folgt die stetige Steigerung der Macht: Sie engagiert sich finanziell, politisch und militärisch fernab des eigenen Staatsgebiets, in der Gegenwart global. Schließlich folgt die letzte Phase, in der zwei Entwicklungen parallel passieren: Die politische, ökonomische und gesellschaftliche Dynamik geht zurück, während die Ausdehnung als quasi panische Gegenreaktion vorangetrieben wird. So entsteht die finale Überdehnung, die ihr Ende in einem relativen Bedeutungsverlust der ehemaligen Großmacht findet.
Denken Sie an die USA? Die Führungsmacht zeichnet sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts durch eine gigantische Überschuldung, seit Jahren grassierende Arbeitslosigkeit und politische Blockaden aus. Bei alledem haben die Vereinigten Staaten ihr Engagement auf der Weltbühne im letzten Jahrzehnt intensiviert: militärisch in Afghanistan und im Irak, politisch im gesamten pazifischen Raum. Der gerade im Amt bestätigte Präsident Obama versucht die Zahlungsunfähigkeit Washingtons abzuwenden und formuliert zugleich rote Linien für Akteure im Nahen Osten. Ein weiteres Phänomen kommt hinzu: In ein entstehendes Machtvakuum stieß in der Geschichte stets eine andere Macht. Insofern versichern chinesische Politiker in jüngster Zeit gern, dass sie den Euro (unter gewissen Bedingungen) nicht im Stich lassen, fordern von Europa ein bestimmtes Verhalten ein und schelten die USA für ihre Ausgabenpolitik, unter Hinweis darauf, dass ihre Investitionen in den Dollar nicht gottgegeben seien.
Historiker befassen sich mit der Vergangenheit und nicht mit der Zukunft. Paul Kennedys verhaltene Prognose aus den achtziger Jahren ist also kein sicheres Szenario. Doch die Folgen eines Rückzugs der USA aus der Generalverantwortung und ihre Ablösung durch China wären so gravierend, dass diese Entwicklung zu reflektieren ist. Und es ist möglich, dass wir dem Prozess bereits beiwohnen.
Dr. Benjamin Teutmeyer