Bahnstationen brennen, der Stadtverkehr ist lahmgelegt, Straßenkämpfe mit der Polizei: Massenproteste. Die Bilder der letzten Tage schrecken auf. Die Volksseele kocht in Istanbul. Dasselbe Szenario aber auch in São Paulo und in Rio de Janeiro. Die politischen Auslöser in der Türkei und in Brasilien scheinen für unsere Gemüter lapidar, es geht um die befohlene Bebauung eines alt ehrwürdigen, zentral gelegenen Parks einerseits sowie um eine Fahrpreiserhöhung andererseits. Zwei Stellvertreterthemen, da sich die Proteste gegen vermeintliche Staatswillkür in der Durchsetzung der Entscheidungen richten, zumindest empfinden das betroffene Teile der Bevölkerung so. Was eigentlich im Fokus steht, ist noch nicht klar. Ob sich der Widerstand am Marmarameer auf breiter Front gegen die autoritäre Obrigkeit organisiert, wird man sehen. Jedenfalls ist möglich, dass sich eine neue basisdemokratische Bewegung als außerparlamentarische Opposition bildet. Dass die Regierung Erdogan auch innenpolitisch nicht zimperlich ist, wusste man ja schon.
Die Gründe, warum sich junge Leute, Studenten, Anwälte und Intellektuelle in eine gasmaskenbewehrte militante Menge verwandeln, reichen weiter zurück. Seit der Festigung der AKP in ihrer herrschenden Funktion sorgen sich viele europafreundliche Türken, dass sich ihr Land im Zeichen des rigiden Führungsstils mehr und mehr an iranischen Verhältnissen orientiert statt westliche Standards zu suchen und zu erfüllen. Die Autokratie setzt auf die Repression durchaus vernünftiger Demonstranten, wo sie doch den Pluralismus der Mitte nicht fürchten, sondern fördern sollte. Fortschritt kann auch in komplexen Kulturen nur durch Mut zu Dialogen entstehen.
Erdogan hat seinen Einfluss in den letzten zehn Jahren langsam aber sicher auf alle wesentlichen Schaltstellen ausgeweitet, um sicher zu sein, dass sich sein Machtapparat nicht gegen ihn wendet. Das Ergebnis: Eine nachhaltige, betonfeste Mehrheit seiner Partei im Parlament und die Befähigung, mit weiten Teilen der Justiz und der Polizei im Rücken kaum kontrolliert zu agieren. Für die 49 % der Bevölkerung, die ihre bürgerliche Mitbestimmung so mit Füßen getreten sehen, reichen kleine Unmutsäußerungen aus, um Behelligung, Verhaftung und Malträtierung zu riskieren.
Mit den jüngsten Bestrebungen, das Alltagsleben religiös motiviert vom Alkoholkonsum bis zur vorgeschriebenen Höchstzahl von Kindern, die eine Familie noch haben darf, zu bestimmen und zugleich Infrastrukturprojekte mit fragwürdigem Finanzkonzept über die Köpfe aller hinweg zu betreiben, scheint das Fass nun übergelaufen zu sein. Befremdlich auch die arrogante Attitüde, die der starke Mann am Bosporus in seinen Reden diesbezüglich an den Tag gelegt hat. Da gab es Hohn für die zig Tausenden Bewahrer des Status quo und Überheblichkeit. Erstaunlich dann nur die souveräne Geste, Vermittlungsgespräche zu führen und die Zukunft des Gezi-Parks in die Hände von Juristen zu legen, deren Votum im Falle der Bestätigung der harten Linie zudem noch ein Referendum nach sich ziehen soll. Gleichwohl überwiegt die Irritation, dass Gesellschaften in dieser Großregion, die sich in Glaubensfragen und in Teilhabefragen generationenbedingt und bildungsbedingt konträr entwickeln, immer noch regimeartig Freiheitsbeschneidungen erleiden.
Da dürften hierzulande manche froh sein, dass der gesittete Bundesbürger weniger zum Aufbegehren neigt. Man denke: Ein „Berliner Frühling“ wegen „Stuttgart 21“ und BER? Auf Sicht nicht.
Tobias Jansen M.A.