Spitzenkandidaten werden in der Politik immer wichtiger. Die Wahlautomatismen, die sich früher aus der Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen ergaben, sind längst verloren gegangen. Für Deutschland bedeutet dies: Arbeiter wählen nicht nur SPD, Ärzte nicht nur FDP und (selbst aktive) Katholiken nicht nur CDU. Massenmedien, professionelle Werbestrategien und die Individualisierung der Gesellschaft bewirken, dass Wahlentscheidungen mehr zu Momententscheidungen werden.
Vor diesem Hintergrund ist die Auswahl des richtigen Mannes oder der richtigen Frau so bedeutsam, wobei das mediale Schlaglicht vor jeder Bundestagswahl auf den Repräsentanten der größten Oppositionspartei fällt, auf den Kanzlerkandidaten. Insofern steht Peer Steinbrück also im Rampenlicht. Ob seine Kandidatur erfolgreich sein wird, hängt primär von einer Frage ab: Bleibt ihm die Dominanz der europäischen Finanzkrise in der öffentlichen Diskussion erhalten? Wenn nicht, gibt es ein Problem. Jeder Spitzenkandidat muss die eigenen Reihen disziplinieren und mobilisieren. Außerdem hat er die (wachsende) Gruppe unentschlossener Wähler anzusprechen und soll darüber hinaus noch Stimmen gewinnen, die eigentlich einer anderen Partei zugeneigt sind. Schon die erste Aufgabe ist für Steinbrück schwer genug. Seine Vorteile bestehen in der Fähigkeit, den zweiten und den dritten Auftrag zu erfüllen. Unentschlossene, verunsicherte Wähler mögen und sollen zu der Wahrnehmung neigen, der ehemalige Bundesfinanzminister durchschaue (als einer von ganz wenigen) die Staatsschuldenkrise und sei berufen, sie zu beherrschen. Diese (intuitive) Kompetenzzuschreibung könnte dem bekennenden „Agenda 2010“-Sozialdemokraten auch im konservativ-liberalen Lager zu Stimmen verhelfen. Flauen die Dispute um Griechenland, um den Euro und die politische Kontrolle der Finanzmarktakteure jedoch ab, bleibt Steinbrück nicht viel: Für seine Fremdwähler verlöre er an Attraktivität und für seine Stammwähler entfiele der Grund, ihn statt eines Kandidaten der Herzen zu akzeptieren.
Die Grünen konzentrieren sich auf den Kanal in die eigene Klientel und lassen ihre Mitglieder über die Spitzenkandidatur befinden. Dieser Ansatz steht quer zur Ambition der Partei, ihren Adressatenkreis in der Bevölkerung zu erweitern. Die Basis wird sich im Zweifel für ein Duo entscheiden, das sie selbst anspricht, also kerngrünes Personal. In diesem Fall müssten der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann und Fritz Kuhn, der neue Oberbürgermeister Stuttgarts, darauf pochen, dass es inzwischen auch ihren realpolitisch tatsächlich mehrheitsfähigen Flügel der Partei gibt.
Die FDP, genetisch die Partei für Unternehmer, äußert sich noch nicht zur Spitzenkandidatenfrage. Für sie hängt viel vom Wahlausgang in Niedersachsen ab. Dabei stellt sich die Aufgabe, zunächst einmal die eigenen Anhänger zu (re-)aktivieren, als dringend dar. Insofern hat Rainer Brüderle, der kernliberale, kampferprobte Fraktionsvorsitzende im Bundestag, bessere Karten als der eher koalitionsoffene (allerdings erfolgreiche) Hoffnungsträger im Landtag in NRW, Christian Lindner, und bessere als der amtierende Bundesvorsitzende.
Die Linke hat sich bisher weder auf einen Kandidaten noch auf ein Verfahren zu dessen Kür verständigt. Bei ihnen könnte ihr bestes Plakatgesicht die Primärfunktion erfüllen, die Partei durch kräftige Kritik am politischen Gegner zu befrieden. Größere Erfolge scheinen derzeit nicht in Sicht.
Angela Merkel ist bei alledem, was sie am liebsten ist: Hüterin ihrer Kanzlerschaft. Sie wird für jeden Gegen- und Mitspieler eine Taktik finden. Ihre Partei wird indessen wohl erst wieder ein Finalspiel verlieren müssen, um Aufstellung und Spielphilosophie einer prinzipiellen Überprüfung zu unterziehen.
Dr. Benjamin Teutmeyer